Ganz offensichtlich ist ein Orchester hierarchisch aufgebaut in Bezug auf Stimmen und Funktionen. Eine 2. Stimme ist nun mal kein Stimmführer und muss sich deshalb im Register klar der 1. Stimme unterordnen, siehe mein Redaktionsbericht "Registerklang- wie aus einem Guss". Registerstimmen müssen sich dem Registerklang verpflichtet fühlen, und alle Register wiederum dem Gesamtklang des Orchesters. Die 1. Trompete oder das 1. Horn ist außerdem verantwortlich für das Funktionieren des Registers in Sachen Klang und Technik.
Ich erinnere mich, dass mein Vater sein Posaunenregister immer wieder einberufen hatte, um in Satzproben "Homogenität" zu kreieren. Auch hier gilt: in Sachen Klang, Dynamik und Artikulation müssen die Registerstimmen die 1. Stimme akzeptieren und begleiten. Diskussionen in musikalischen Dingen sollen und müssen sein; die Entscheidung und Verantwortung trägt aber letzten Endes die 1. Stimme (siehe Fliegerei: Pilot in command). Registerbezogen existiert also keine Emanzipation der Stimmen untereinander. Anpassungsfähigkeit ohne den Beigeschmack des "Unterdrückt seins" ist hier die Devise. Sich anpassen bedeutet nicht, sich zu unterwerfen, sondern selbstbewusst der manchmal nachrangigen Funktion einer 2. / 3. / 4. Stimme sich anzunehmen. Natürlich gibt es Grenzfälle, in welchen genau diese musikalischen Basics aus Gründen der Komposition missachtet werden müssen. Und doch gilt stets. Die tieferen Stimmen müssen die hohen ersten Stimmen unterstützend "accompagnieren" (begleiten).
Über allem steht der Dirigent, der "Führungsqualitäten" und natürlich auch eine Gabe zur Überzeugung seiner Sichtweise der Interpretation an den Tag legen muss. Ich selbst habe Generalproben erlebt, die in ein Kompetenzdesaster mündeten, als Stimmführer(innen) oder Konzertmeister(innen) die Leitung an sich ziehen wollten. Solcherlei "Wettkämpfe" verhärten sich sehr schnell, wobei der Gesamtheit des Orchesters und der Aufführung nicht gedient ist. Oberstes Gebot ist es, dass der Orchestermusiker alle Bewegungen eines Dirigenten erkennt, richtig deutet und auch selbst dirigieren könnte. Es gibt so viele Varianten, wie Dirigenten beispielsweise einen 6/8- Takt schlagen können, so viele Möglichkeiten der Gestik und des Ausdruckes. Mancher Dirigent liebt ausladende Bewegungen, wo eine Reduzierung auf das Wesentliche weitaus nötiger wäre.
Der Musiker im Orchester darf sich hier nicht ablenken lassen und sich auf das Wichtige konzentrieren. Manche Dirigenten schaue ich beim Musizieren in die Augen, da der Blickkontakt sehr präzise und authentisch ist. Bei anderen, unnötig "herum zappelnden" Showdirigenten schaut man besser in die Noten und registriert nur das, was am Rande des Blickfeldes an Bewegungen erkennbar ist. Ganz wichtig ist es als Orchestermusiker die Dirigierebene, den sog. Endpunkt des Schlages zu erkennen, denn am Ende der Bewegung steht der zu spielende Ton. Leider variieren manche Dirigenten diese Ebene, was die zeitliche Setzung des Tonanfanges erheblich erschweren kann- gerade bei Bläsern. Hier muss der Musiker selbst entscheiden und eventuell die Führung übernehmen. In den Proben bereits entwickeln sich solche "Kompetenzübertragungen in Sachen Führung" vom Dirigenten zum Musiker- oftmals mit Billigung des Dirigenten.
Die Orchesterarbeit stellt enorme Anforderungen an die Anpassungs- und Reaktionsfähigkeit eines Orchestermusikers. Binnen kürzester Zeit muss dieser reagieren und sein Agieren neu ausrichten. Er muss neue Impulse, die aus dem Moment der Aufführung entstehen aufnehmen und richtig interpretieren. Er muss dem Dirigenten unterschiedliche Spielweisen für ein und dieselbe Orchesterstelle anbieten können und die Fähigkeit haben, andere Interpretationen zu akzeptieren, die nicht der seinen entsprechen.
Das perfekte Register praktiziert ein ständiges Geben und Nehmen. Das gemeinschaftliche Zupacken bei vollem Registerklang, das Ausbalancieren der Klangverhältnisse, das Zurücknehmen zu Gunsten der Melodiestimme, aber auch die Fähigkeit, Kritik als konstruktives Mittel zum Zweck zu erkennen- all das ist notwendig für ein gutes, musikalisches Miteinander. Eine über die Dynamik der 1. Stimme spielende 2. Stimme ist ein Zeichen von Unkollegialität und schwächt die 1. Stimme. Kollegialität dokumentiert sich beispielsweise auch im "Pausentakte zählen" für den Kollegen, der kurz vor einer heiklen Stelle ist. Für das Publikum unsichtbar gezählte Takte (Handzeichen) schaffen Sicherheit und Ruhe.
Also: reden wir nicht über Kollegialität: praktizieren wir sie.
Jahrelanges Musizieren mit dem gleichen Orchester stumpft den versierten Orchestermusiker nicht ab, sondern präzisiert seine Fähigkeiten, sodass sich eine Steigerung der Gesamtleistung einstellen kann, wie es uns die namhaften Orchester immer wieder demonstrieren. Der Orchestermusiker muss non- verbale und unsichtbare Zeichen und Stimmungen aufnehmen können und auch "bewegungsreduzierten" Dirigenten ihre Wünsche aus den Augen ablesen. Aufmerksamkeit und Schärfe der Sinne sind Grundvoraussetzungen für das Spiel in einem Top- Orchester.
Die Solostimme ist gewissermaßen der musikalische Star, der seine Virtuosität vor einem Orchester, Dirigent und Publikum behaupten muss. Über ihm stehen nur der Komponist und die Komposition. Zweifelsohne stellt die Solostimme höchste Anforderungen an Können und Nervenstärke. Auch die Außenwirkung für das Publikum darf nicht vergessen werden, denn der Solist muss sich auch "verkaufen" können. Doch: ohne Orchester würde es kein Solokonzert geben können. Orchestermusiker und Solisten bedingen sich also gegenseitig- die Anforderungen an beide sind enorm und verschieden.
Fazit: der Orchestermusiker muss schaffen, was Philosophen und Ethiker von einem "selbst bewussten" Menschen fordern: die Fähigkeit, das eigene Ego zurück zu stellen zum Vorteil einer gemeinschaftlichen Sache.
Nein, Orchestermusiker sind wahrlich Musiker erster Klasse.
Na dann viel Freude und Erfolg!