Die uns in heutiger Zeit geläufige Notenschrift, laut Duden ein "System von Zeichen, mit deren Hilfe Musik aufgezeichnet wird", hat den Berufstand des Komponisten und die Reproduktion von Musik erst ermöglicht. Anfänglich wurde Musik nur durch Erlernen, Nachsingen und Nachspielen weitergegeben. Kinder lernten die Gesänge der Mutter auswendig und gaben diese an ihre Kinder weiter. Allerdings konnte dabei die Konstanz der Originalität nicht gewährleistet werden.
Isidor von Sevilla, ein spanischer Musiktheoretiker aus dem 6. Jahrhundert vor Christus, glaubte nicht an die Möglichkeit, Musik notieren zu können. Von ihm ist überliefert: "Musik vergeht, sofern sie nicht vom Gedächtnis festgehalten wird, denn aufschreiben kann man sie nicht."
Wie also sollte man non verbale Gefühle in nachvollziehbare Notation (lat. Verb: notare = kennzeichnen, bezeichnen) umsetzen können?
Seit Menschengedenken hat der Interpret die verantwortungsvolle Aufgabe und Verpflichtung, die Information des Komponisten wahrheitsgetreu in Musik zu transformieren- eingedenk der künstlerischen Freiheit. Dabei steht er stets im Spannungsfeld zwischen der Frage: was kann ein Musiker- was will ein Komponist.
Doch über allem steht die große Frage: wie viel kann verloren gehen bei der Übersetzung der musikalischen Inspiration in die Notenschrift, und bei der Dechiffrierung der Notenschrift zurück in belebte Musik?
Die Notenschrift bietet grafische, technisch vereinfachte Anhaltspunkte und Ansätze für die Entstehung wahrhaftiger Kunst, insbesondere zu Beginn der Auseinandersetzung mit einem Werk. Man kann die Notation nur als ein "Handwerkszeug" des Interpreten bezeichnen. Nicht mehr und nicht weniger. Die eigentliche Musik und die Musikalität stehen quasi zwischen den Notenzeichen. Diese Tatsachen muss man stets bedenken bei der Ver- oder Entschlüsselung von Musik. Denn Entschlüsselungsfehler werden automatisch zu Interpretationsfehlern.
Die optische Auflösungsfähigkeit
Die Auflösungsfähigkeit unserer Augen erfordert einen notwendigen Abstand der Zeichen. Dieser optische Abstand impliziert unbewusst einen musikalischen Abstand bzw. Absatz der Noten untereinander- auch wenn dieser vom Komponisten nicht gewünscht ist. Ohne Zweifel sind wir also stark optisch geleitete Individuen, die Gefahr laufen die grafischen Signale wichtiger zu nehmen, als die musikalische Linie.
Wir wissen nun: der grafische Abstand der Noten ist nicht gleichbedeutend mit einem akustisch- musikalischen Abstand (Trennung). Unabhängig von der Artikulation eines Portato, Legato oder Staccato- der grafische (notierte) Abstand der Noten ist stets der gleiche. Wenn die grafische Darstellung mit der musikalischen korrespondieren sollte, so müssten die Notenkörper dicht aneinander gefügt werden, was die Übersichtlichkeit entscheidend verschlechtern würde.
Nun wird auch klar, weshalb Notenwerte nicht ausgespielt werden- der Abstand zur nächstfolgenden Note impliziert dem Betrachter eine Art Absatz oder Trennung zur folgenden Note- und schon wird die voran gegangene Note eingekürzt, anstatt sie auszuspielen. Der Melodiefluss ist demnach grafisch nicht umsetzbar- er muss durch die interpretatorische Musikalität ausgeglichen werden.
Herbert von Karajan hatte den Taktstrich als den "Fluch unserer Musik" bezeichnet, denn er sei lediglich eine Richtlinie, ein Anhaltspunkt. Er wurde erst im 17. Jahrhunderts eingeführt, um durch eine optische Portionierung des Notenmaterials mehr Übersichtlichkeit und Gliederung zu erhalten. Durch den Taktstrich wurde eine effektive Probenarbeit erst möglich, denn wir lokalisieren durch ihn exakt die Stelle einer zu probenden "Baustelle". Doch in musikalischer Hinsicht verleitet er zu Stupidität und Unkreativität, denn er zerhackt und unterbricht musikalische Melodiebögen an unpassenden Stellen und verleitet zum Atemholen zur Unzeit. Nach Celibidache sind diese "Einzelteile" eine Reduzierung des großen Ganzen. Der Taktstrich ist ergo nur ein optischer Anhaltspunkt- nicht mehr und nicht weniger.
Ohne Zweifel beansprucht eine ganze Note weniger Platz als eine Sechzehntel- oder Zweiunddreißigstelkolloratur. Die Gesamtdauer eines Taktes ist in den genannten Fällen stets die gleiche- das optische Erscheinungsbild jedoch ist von unterschiedlichem Ausmaß.
Der Moment der Komposition ist ein zumeist spontaner, der eine schnelle und einfache Codierung erfordert. Wünscht ein Komponist voneinander getrennte Achtelnoten mit Achtelpause, so notiert er der Einfachheit halber ausschließlich Viertelnoten, um diese durch Staccatozeichen abzusetzen- wenn überhaupt. Eine präzise Notation der exakten Noten- und Pausenwerte wäre für den Komponisten äußerst umständlich und für den Interpreten unübersichtlich. So gesehen ist die Notenschrift ein realistischer Kompromiss aus Zweckmäßigkeit und notwendiger kompositorischer Werksangabe. Ebenso verhält es sich mit der Notation beim Jazz. Hier werden Notenwerte automatisch gekürzt, "abgezogen" oder swingend verlängert. Eine ausführliche Notation wäre nur störend.
Auch wenn die Notation in Zukunft präzisiert und verbessert würde, so bleibt für die Interpreten die vordringliche Aufgabe einer klaren Trennung zwischen notatorischem "Schein" und musikalischem "Sein"- zwischen dem ersten Eindruck der Notation und der musikalischen und melodischen Kreation und Intention des Komponisten. Vergleicht man die Interpretationen einer Bruckner Sinfonie eines Günter Wand mit einer Celibidache- Interpretation, so meint man, es handelte sich nicht um das gleiche Stück. Und genau hierin besteht der Reiz und das Geheimnis in der Auseinandersetzung mit der Musik und den vielfältigen Interpretationsansätzen, die eine Komposition einem Interpreten offen lässt.
Sergiu Celibidache sei an dieser Stelle das letzte Wortüberlassen mit seinem Zitat: "Man will nichts, man lässt es entstehen".
Viel Erfolg!